Von „Lost Paradise“ bis „Ascension“ – die große Paradise Lost-Retrospektive
Paradise Lost ist unumstritten eine der größten und wichtigsten Bands des Gothic Metals. Seit 1988 sind die Briten aktiv und haben sich seitdem – abgesehen von der ewig rotierenden Position hinterm Schlagzeug – die gleiche Besetzung bewahrt. Angeführt vom Kreativ-Duo Nick Holmes (Gesang) und Gregor Mackintosh (Lead-Gitarre) veröffentlicht die Truppe seit 35 Jahren in regelmäßigen Abständen neue Alben und hat in dieser Zeit so einige – mitunter drastische – stilistische Wandel durchgemacht. Doch egal ob finsterer, schleppender Death Metal, Doom, Gothic Metal, Synth Rock, oder irgendetwas dazwischen: Irgendwie ist es doch immer unverkennbar Paradise Lost.
Anlässlich ihres neuen, 17. Studioalbums „Ascension“ blickt die Moshpit Passion-Redaktion zurück auf das bisherige Schaffen der Engländer.
„Lost Paradise“ (1990)
Die Reise beginnt im Februar 1990: Peaceville Records veröffentlicht das Debut-Album „Lost Paradise“. Ein vergleichsweise noch primitives Death-Metal-Album, dass durch seine stockfinstere Stimmung und sein langsames Tempo einen wichtigen Meilenstein für das Death-Doom-Genre darstellt. Zusammen mit den Label-Kollegen Anathema und My Dying Bride gehören Paradise Lost mit ihrem Frühwerk zu den wichtigsten Vertretern dieser Stilrichtung.
Heiko: Solides Debut, dass aber noch nicht viel von dem hat, was Paradise Lost für mich auszeichnet. Ein gutes frühes Death-Doom-Album, dass den Weg für noch viel Stärkeres ebnen sollte, sowohl für die Band, als auch für das Genre. „Our Saviour“ ist ein saucooler Song und das Album hat eine schön unheilvolle Atmosphäre, gerade in der zweite Hälfte der Platte bleibt bei mir aber eher weniger hängen. (7/10)
Stelle: Mit ihrem Debüt „Lost Paradise“ haben Paradise Lost schon früh bewiesen, dass Death und Doom eine einzigartige, düstere Symbiose eingehen können. Ich hatte die Kassette damals ständig im Walkman, meistens auf dem Fahrrad zur Schule – und das ellenlange Intro war unser Running Gag: Wir haben gewettet, ob es wohl noch läuft, bis wir angekommen sind. Diese besondere Stimmung hat mich schon damals gepackt und sie funktioniert auch heute noch. „Lost Paradise“ ist gut gealtert und bleibt für mich ein starkes Debüt mit 8 von 10 Punkten.
Tobi: Das Debütalbum von Paradise Lost habe ich erst kürzlich näher in Augenschein genommen. Zu der Zeit, als ich anfing, die Band zu hören (1994) war es mir zu „extrem“, später hatte ich nie den Ansporn es näher kennenzulernen. Es hat zwar einen rumpeligen, ursprünglichen Charme, ich muss aber leider feststellen, dass ich nicht so richtig Zugang dazu finde. Einzig „Our Saviour“, „Rotting Misery“ und „Breeding Fear“ können mich dezent aus der Reserve locken. (5/10)
Stephan: Das erste Album was ich von Paradise Lost in die Finger bekommen bzw. so richtig wahrgenommen habe, war damals „Draconian Times“. Das Debüt habe ich erst sehr viel später gehört (siehe „Icon“). Der doomige Death-Stil lag mir zwar damals, aber ich bin erstmal nicht warm geworden, weil es zu viel anderes gab, was mir damals noch besser gefallen hat. Grundsätzlich ein ordentliches Album, roh, ehrlich. Die späteren typischen Elemente, wie Melodielinien und die Art des Songwritings werden hier entwickelt und später weiter ausgebaut. (7/10)
„Gothic“ (1991) 
Die auf dem Debut nur sporadisch angedeuteten Gothic-Elemente werden voll zelebriert und machen Paradise Lost auf ihrem zweiten Album zu weitaus mehr als „nur“ einer Death-Metal-Band, die eben etwas langsamer spielt als der Rest. Schaurige Melodien, Keyboards, Frauengesänge,… Sowohl für den Death-Doom, als auch für den Gothic Metal ist „Gothic“ ein irre wichtiges und innovatives Album.
Heiko: Ein großer Schritt vorwärts, stilistisch wie auch qualitativ. „Gothic“ hat eine ganz besondere, eigene Stimmung. Nicks Vocals klingen mächtig und morbide, Gregs Lead-Gitarre kommt zum ersten Mal so richtig zur Geltung und er zaubert einige fantastische Melodien, die die Grundlage für den typischen Paradise Lost-Sound bilden. Besonders „Eternal“ und „Gothic“ sind für mich große Highlights, das Album ist aber durchweg sehr stark. (9/10)
Stelle: Mit „Gothic“ haben Paradise Lost Musikgeschichte geschrieben – für mich ist das ganz klar die Geburtsstunde des Gothic Metal. Die Verbindung von Death-Doom mit orchestralen Elementen und weiblicher Stimme hat damals etwas völlig Neues erschaffen, das es in dieser Form noch nicht gab. Ich erinnere mich noch, wie ich nach dem ersten Hören komplett weggeblasen im Kinderzimmer mit meiner selbstgebastelten Holzgitarre headbangend durch die Bude sprang. Dieses Gefühl holt mich bis heute sofort wieder ins Jahr 1991 zurück. „Gothic“ ist für mich ein unumstößlicher Meilenstein und verdient satte 9 von 10 Punkten.
Tobi: Mit dem Album „Gothic“ geht für mich die Diskographie von Paradise Lost so richtig los. Erstmals bleiben Songs und Strukturen hängen, eine schöne, schaurige Grundatmosphäre durchzieht das Album. Es finden sich zwar nur wenige Überhits („Gothic“, „Eternal“) aber hier und da schlummern ein paar kleinere Perlen, die auch nach Jahrzehnten immer wieder gerne entdeckt werden wollen („Shattered“, „Angel Tears“). (6/10)
Stephan: Die einehmenden Melodielinien finde ich hier schon besser ausgearbeitet als auf dem ersten Album. Außerdem finde ich, dass Nick seinen Gesang verbessert hat, dazu kommen Chöre und harmonischer weiblicher Backgroundgesang. Alles sehr rund, aber ich hab’s tatsächlich gerade zum ersten Mal gehört, daher gebe ich keine Wertung ab.
„Shades of God“ (1992)
Die Gothic-Einflüsse werden wieder weitgehend zurückgefahren, mit einer großen Ausnahme: „As I Die“, ein Song, an den bis auf Mackintosh niemand wirklich glauben wollte und der deshalb auf der Originalpressung noch nicht zu finden war. Trotzdem wurde er zum Hit und zu einem der quintessentiellen Songs der Band. Der Song sollte als Blaupause für die folgenden Alben dienen. Der Rest von „Shades of God“ ist stark vom klassischen Doom Metal geprägt und lässt klare Einflüsse von Trouble oder Black Sabbath erkennen, besonders durch Nicks immer noch sehr brutalen Vocals aber auf weitaus derbere Art.
Heiko: Etwas sperriger, gerade durch die ausartenden und vielleicht nicht immer ganz gerechtfertigten Songlängen. Die Produktion gehört für meine Ohren auch nicht zu den stärksten und Original-Schlagzeuger Matthew „Tuds“ Archer kristallisiert sich als musikalischer Schwachpunkt der Band heraus, was nach dem folgenden Album auch zur Trennung führen sollte. Doch bei allem, was ich an „Shades of God“ kritisieren könnte, ist auch Album Nr. 3 sehr stark und scheint in der langen Diskographie völlig für sich alleine zu stehen. „Mortals Watch the Day“, „Daylight Torn“ und besonders „Pity the Sadness“ sind absolut großartig. Der Überhit schlechthin ist aber ursprünglich nicht mal Teil des Album gewesen: Das Gothic-Meisterwerk „As I Die“. In meinen Augen ein perfekter Song. „Shades of God“ wirkt für mich nicht unbedingt 100% ausgereift, die Riffs, die Stimmung und Nicks nicht mehr ultra gutturalen, aber immer noch sehr heftigen (und sicherlich nicht ganz gesunden) Vocals machen es aber immer noch zu einem ganz besonderen, herausstechenden Doom-Metal-Album. (8/10)
Stelle: „Shades of God“ hat viele Fans damals erst einmal ratlos zurückgelassen, weil Paradise Lost hier spürbar melodischer und rockiger wurden. Nick Holmes begann, neben dem Growlen auch zu singen – ein Schritt, der für mich das Album bis heute spannend macht. Die Anekdote um ihren größten Hit „As I Die“ (ursprünglich nur CD-Bonustrack, später als EP nachgereicht) zeigt, wie ungeplant Klassiker entstehen können. Mit Songs wie „Mortals Watch the Day“ oder „Pity the Sadness“ liefert die Platte dazu zeitlose Highlights. Für mich ein gnadenlos unterschätztes Album – und ohne diese suchende, non-konforme Phase hätte es den späteren Weg der Band so nie gegeben. (9/10)
Tobi: Dieses Album hat für mich den Weg zu Paradise Lost geebnet. Als ich seinerzeit das erste Mal das „As I Die“-Musikvideo bei Headbangers Ball auf MTV gesehen habe, war’s um mich geschehen. Ich habe anschließend das gesamte Album in mich aufgesogen und liebe es bis heute abgrundtief. „Shades of God“ ist die perfekte Mischung aus dem glattgebügelten Sound, der da noch kommen mag und den rumpeligen Anfangstagen. Neben „As I Die“ strahlen „Pity the Sadness“, „Mortals Watch the Day“, „Crying for Eternity“, „Embraced“ und „Your Hand in Mine“ so stark, dass ich es auf eine Stufe mit dem Nachfolger „Icon“ stelle. (9/10)
Stephan: Bis auf „As I Die“ habe ich das Album nie wahrgenommen, auch bis heute nicht. Bis heute auch noch nie komplett gehört. Ich finde es tatsächlich jetzt ganz gut, aber mich packt der Sound der dünnen, irgendwie zu höhenlastigen Gitarre immer noch nicht. (7/10)
„Icon“ (1993)
Nach dem Erfolg von „As I Die“ scheint der Sound gefunden zu sein und Greg Mackintosh gibt sich als Songwriter ganz dem Gothic Metal hin, mit melodischen, wesentlich kompakteren und ausgereifteren Stücken. Die Dynamik aus simplen, harten Riffs in Verbindung mit schwermütigen Lead-Melodien aus „Gothic“ wird wieder aufgegriffen und zum Kern des Sounds gemacht. Nick fährt die Brutalität seiner Vocals noch etwas zurück und versucht mehr und mehr Melodie in seine Stimme zu bringen. Die Produktion ist größer und nicht wenige Songs der Scheibe haben sich zu echten Klassikern der Band gemausert. 2023 wagte man sich, aufgrund der aussichtslosen Rechtslage über das Originalalbum (danke, Sony), an einer originalgetreuen Neuaufnahme unter dem Titel „Icon 30″, die ebenso hörenswert ist.
Heiko: Für viele das Meisterwerk der Band, für mich ein definitiv starkes Album, dass aber auch nicht ganz frei von Schwächen ist. Kompositorisch ist das Ding über jeden Zweifel erhaben und Greg hatte hier den Dreh raus, was eingängiges, packendes Songwriting angeht. Kaum jemand schreibt so starke, tottraurige Melodien wie er. Allerdings kann Nick Holmes stellenweise doch noch arg neben der Spur sein, gerade dann, wenn er sich an klarem Gesang versucht. Da sollte sich noch einiges tun. Auch schwächelt das Album für mich in der Mitte ein wenig, aber Knaller wie „Embers Fire“, „Remembrance“ „Forging Sympathy“, „Dying Freedom“, „True Belief“ oder das unterschätzte „Christendom“ sprechen für sich. Ebenso wie die einnehmende Stimmung der Platte. (9/10)
Stelle: Mit „Icon“ katapultierten sich Paradise Lost endgültig in die erste Liga und wurden plötzlich in einem Atemzug mit Metallica genannt – auch, weil Nick Holmes stimmlich stellenweise an James Hetfield erinnerte. Für mich ist das aber nebensächlich, denn die Platte ist schlicht ein Meisterwerk voller Hits: „Embers Fire“, „True Belief“ und viele mehr reißen von vorne bis hinten alles ab. 1993 waren Paradise Lost die Band der Stunde, spielten auf den großen Festivals und lieferten den Soundtrack meiner Jugend – ob zuhause, im Auto oder auf Dauerschleife im Walkman. Bis heute höre ich das Album rauf und runter und habe mir über die Jahre unzählige Versionen davon zugelegt – LP, CD, die 30-Jahre-Rerecordings, alles steht hier im Regal. „Icon“ ist für mich ein absoluter Gamechanger der 90er und verdient ohne Diskussion 10 von 10 Punkten.
Tobi: Für mich auf einer Stufe mit dem Vorgänger: starke Einzelsongs, starkes Gesamtpackage, mein Soundtrack der 90er Jahre. Dieses Album wird nicht alt und möchte auch heute noch, nach über dreißig Jahren, immer wieder aufs Neue entdeckt und gefeiert werden. (9/10)
Stephan: 1993 war ich 15 und der Metal hat so richtig erst seine Flügel über mir ausgebreitet. Das Album habe ich damals im Videoplanet in Castrop Rauxel ausgeliehen, zusammen mit dem Debüt. Das habe ich früher oft gemacht, für einen ersten Eindruck oder erstmal zu kopieren und bei Gelegenheit zu kaufen, wenn es zu kriegen war. Im Grunde genommen hatte das Album damals wie heute nur 2 Songs für mich, die mir bis heute am besten gefallen – „True Belief“ und „Embers Fire“. Das Debüt hat mich damals auch nicht so richtig gezündet und kam mir erst irgendwann nach dem enttäuschenden „One Second“ wieder in die Finger, wo es dann besser in meine Ohren lief. Vom Sound her ist Icon auch wesentlich besser für mich als „Shades of God“. Alles wirkt runder und voller. (8/10)
„Draconian Times“ (1995)
„Icon“, Part 2. Der melodische, harte Gothic-Stil des Vorgängers wird konsequent fortgeführt. Noch größer, noch raffinierter, noch polierter und mit Neuzugang Lee Morris erstmals mit einem absoluten Top-Schlagzeuger in der Band, der seine Präsenz spüren lässt. Wer hätte ahnen können, dass sich Paradise Lost nach diesem Album für einige Jahre vom Metal verabschieden sollten…
Heiko: Für mich das beste Paradise Lost-Album und eines der besten Metal-Alben aller Zeiten. Alles wofür Paradise Lost stehen, wird hier in absoluter Perfektion präsentiert. Die Hitdichte ist irre, die Melodien zum heulen schön, der Sound hat es in sich, Lee Morris hebt die Band mit seinem Drumming auf die übernächste Stufe und klang Nick auf dem Vorgänger noch nicht immer 100% treffsicher, gibt er hier seine vielleicht beste Vocal-Performance. Kann man ein Album perfekter eröffnen als mit „Enchantment“ und „Hallowed Land“? Ich glaube nicht. „Forever Failure“, „Elusive Cure“ und „Shades of God“ ertrinken in purer melancholischer Schwermut, „The Last Time“ und „Once Solemn“ bringen dagegen ordentlichen Schwung in die Platte. Jedes Lied ist ein Volltreffer und mindestens die Hälfte des Albums besteht aus meinen allerliebsten Paradise Lost-Songs. Ein perfektes, zeitloses Album. (10/10)
Stelle: Nach dem Riesenerfolg von „Icon“ war die Spannung groß, doch Paradise Lost machten das einzig Richtige: Sie perfektionierten ihren Sound und gaben ihm mit neuem Drummer noch mehr Wucht und Rundheit. Für mich ist „Draconian Times“ neben „Icon“ bis heute der absolute Favorit – ich könnte mich kaum entscheiden, welches Album stärker ist. Die Platte ist voll von Hits, von Hymnen wie „The Last Time“ bis zu Abrissbirnen wie „Once Solemn“, und dazu in einer Produktion, die einfach zeitlos klingt. Ich durfte die Band damals 1995 als Headliner auf dem Dynamo erleben, dritte Reihe – und sie haben eindrucksvoll bewiesen, dass sie da ganz nach oben gehören. Für mich bleibt „Draconian Times“ ein Monument der 90er – und das ergibt nichts anderes als die Höchstwertung. (10/10)
Tobi: DAS Paradise Lost-Album überhaupt. Ein Meilenstein der Musik. Erhaben. Wunderschön. Unerreicht. (10/10)
Stephan: Mein wirklicher Einstieg in die Band, alle anderen Alben davor hatten für mich von da an erstmal keine Bedeutung mehr für mich. Bis heute eines meiner Lieblingsalben überhaupt. Ich weiß nicht wie oft ich das gehört habe, direkt fallen mir zig Situationen ein mit einer Geschichte dazu. Hätte ich damals einen Rückenaufnäher für meine Kutte dazu bekommen, hätte ich ihn sofort gekauft und er wäre er bis heute drauf. Gabs aber leider nicht, bei Idiots oder bei meinen Läden in Bochum und Herne. Also jedes Lied hat seine Berechtigung, seinen Platz auf dem Album und die Reihenfolge kann nicht anders sein. Eines der Alben wo der Skip-Knopf am CD Player irrelevant geworden ist. Hier stimmt alles – ganz klar. (10/10)
„One Second“ (1997)
Harte Gitarren? Harter Gesang? Irgendwelche Anzeichen von Metal? Große Fehlanzeige. Nach den endlosen Tourneen, die die Vorgänger und besonders „Draconian Times“ nach sich zogen, hatten Paradise Lost erstmal die Schnauze voll von harten Klängen. Auf „One Second“ geht es alles etwas gemächlicher und experimenteller zu. Es bleibt natürlich weitgehend düster und melancholisch, aber eben auf eher rockende Art und Weise. Greg Mackintosh entdeckte das Keyboard für sich und verlagerte seinen Fokus lieber darauf. Rhythmus-Gitarrist Aaron Aedy bezeichnete den eröffnenden Titeltrack mal als den besten U2-Song, den U2 nie geschrieben haben. Andere Songs erinnern dagegen beispielsweise an Depeche Mode oder Sisters of Mercy. Davon, die „Metallica des Gothic Metals“ zu sein, wollte man einfach nichts mehr wissen.
Heiko: Ein harter Stilbruch, der ziemlich gut funktioniert. Stellenweise sogar richtig großartig, wie im sehr schönen Titeltrack oder in der schwungvollen, unwiderstehlichen Goth-Rock-Nummer „Say Just Words“. Das sehr elektronische „Mercy“ würde auch perfekt zum Nachfolgealbum passen, „Soul Courageous“ und „Blood of Another“ sind straighte Rock-Nummern, die nicht zu meinen Highlights gehören, das Album aber gut auflockern. „Disappear“ und „Sane“ sind zwei starke, stimmungsvolle Stücke gegen Ende mit tollen Melodien. (8/10)
Stelle: Als „One Second“ erschien, war der Schock groß: Nach den Meilensteinen „Icon“ und „Draconian Times“ rechneten alle mit einer Fortsetzung des Erfolgsrezepts – und bekamen stattdessen ein Album, das deutlich poppiger und elektronischer daherkam. Paradise Lost orientierten sich stärker an Bands wie Fields of the Nephilim, Sisters of Mercy oder The Mission und schlugen damit einen komplett neuen Weg ein. Viele Fans waren vor den Kopf gestoßen, aber ich konnte mich von Anfang an mit dieser Platte anfreunden. 1997 war ich Zivi, die 90er waren musikalisch ein einziges Chamäleon, und ich war generell offen für Experimente – vielleicht auch, weil die Zeit damals voller musikalischer Umbrüche war und man nie so recht wusste, was einen erwartete. Songs wie „Say Just Words“, „Soul Courageous“ oder „Blood of Another“ sind für mich bis heute großartige Gothic-Rock-Hits, die die Vielseitigkeit der Band unterstreichen. „One Second“ ist für mich ein mutiges Album, das seiner Zeit absolut entsprach und das ich auch heute noch mit 8,5 von 10 Punkten bewerte.
Tobi: Wie krass kann man das beste Album der Bandgeschichte konterkarieren? Paradise Lost haben geschafft, was selten eine Band sonst geschafft hat: Auf absolute Top-Musik folgt „Häh, was soll das denn?“. Zugegebenermaßen hat sich meine Sicht auf das Album in all den Jahren ein wenig gewandelt, direkt zum Release war es jedoch einer der größten Schläge in die Magengrube, die je musikalisch ausgeteilt wurden. Aus heutiger Sicht erkenne ich einen gewissen musikalischen Wert an, in der Diskographie von Paradise Lost markiert dieses Album, trotz einiger charttauglicher Depeche Mode-Ausflüge, den Anfang vom Ende der ersten Hochphase der Band. (4/10)
Stephan: Leider eine große Enttäuschung. Ich kann mich erinnern, dass ich es blind gekauft habe. Es stand dann auch bis 2010 oder so bei mir rum, so gut wie ungehört. Die Band beschränkte sich für mich danach noch mehr nur auf „Draconian Times“. Keine Wertung, ich müsste es mal wieder hören, aber das reizt mich 0, also lasse ich es. Die nun folgenden Alben bis „In Requiem“ höre ich mir nur an, aber auch nur halbherzig. Bis 2007 war dann kein Kauf mehr dabei.
„Host“ (1999)
War „One Second“ bereits eine kontroverse Angelegenheit und veranlasste haufenweise Metalfans zum kräftigen Schlucken, geht „Host“ noch einige Schritte weiter. Die auf dem Vorgänger liebgewonnenen elektronischen Elemente werden komplett in den Vordergrund gestellt. Von der einstigen Metal-Identität ist rein gar nichts mehr übrig und selbst die Bezeichnung als Rockalbum fühlt sich nicht ganz richtig an. Paradise Lost gehen hier in den vollen Depeche Mode-äh-Mode. Eine Seite, die Paradise Lost danach wieder abschütteln sollten, die Holmes und Mackintosh jedoch im Jahre 2023 mit einem, nach dem Album benannten, Nebenprojekt wieder haben aufleben lassen.
Heiko: Das wohl streitbarste Album der Band. Bei mir trifft die elektronische Ausrichtung aber einen Nerv, jedoch kann ich jeden verstehen, der damit überhaupt nichts anfangen kann. Für mich ist die Scheibe noch etwas stärker und eben auch konsequenter als ihr Vorgänger. Die DNA ist nach wie vor da. Auch wenn das Album hier und da den Stempel „Synth-Pop“ aufgedrückt bekommt, ist es alles andere als ein positives Album. Es ist immer noch sehr düster und trägt eine große Ladung Schwermut in sich. „Permanent Solutions“ und „So Much is Lost“ sind die großen Highlights, „Behind the Grey“, „Nothing Sacred“ oder das etwas locker-rockigere „Made the Same“ wissen auch sehr zu gefallen. (8/10)
Stelle: Mit „Host“ haben Paradise Lost bei mir komplett ins Klo gegriffen. Kaum noch Gitarren, stattdessen Elektronik ohne Ende – das klang wie Depeche Mode in schlecht, und das sage ich als jemand, der Synthpop eigentlich mag. Dazu kam die komplette optische Kehrtwende: Haare ab, neue Klamotten, das volle „wir distanzieren uns von unserer Vergangenheit“-Programm. Für mich wirkt das Album bis heute so, als hätte man auf Teufel komm raus alles anders machen wollen – nur leider ohne die Magie früherer Tage. In meiner Sammlung ist „Host“ der absolute Fremdkörper, und deshalb gibt’s von mir (wohlwollend, weil ich die Band liebe) 4 von 10 Punkte.
Tobi: Puh… hartes Brot diese Scheibe. Damals verachtet, heute zumindest anerkannt als „Phase“ der Band, die mir nicht besonders gefallen hat. Ich tue mich nach wie vor schwer, das als vollwertige Paradise Lost-Scheibe zu sehen, für mich hat das eher was von einem Side Project. Immerhin gefällt der Opener „So Much is Lost“ – und ist gleichzeitig auch ein bisschen das Motto der Scheibe. (3/10)
„Believe in Nothing“ (2001)
Die elektronischen Einflüsse und die softere Ausrichtung bleiben, „Believe in Nothing“ ist aber wieder weitaus gitarrenlastiger als sein Vorgänger. Dem Metal bleibt man aber weiterhin fern. Besonders die Singles „Mouth“ und „Fader“ sind radiotaugliche Rocksongs, die kaum weiter von den todesmetallischen Anfängen der Truppe entfernt sein könnten. Persönliche Probleme und Einmischungen des Labels sorgten dafür, dass die Band mit dem Endergebnis nie so ganz zufrieden war. Der etwas drucklosen Produktion konnte man immerhin mit einem Remix im Jahre 2018 entgegenwirken.
Heiko: Etwas inkonsistent, aber nicht ohne seine großen und kleineren Highlights. „I Am Nothing“ ist ein bärenstarker Opener mit packendem Refrain. „Mouth“ funktioniert als harmloser Radiorock außerordentlich gut und am Ende trumpfen die Briten mit dem hochemotionalen „World Pretending“ nochmal richtig auf. „Illumination“ und „Something Real“ sind zwei sehr coole, wenig beachtete Nummern. Dieses Niveau kann auf Albumlänge aber nicht immer ganz gehalten werden. Zwischendurch findet sich doch so manche wenig Eindruck hinterlassene Nummer. Doch selbst ein vermeintlich schwaches Paradise Lost-Album bietet in meinen Augen immer noch genug Hörenswertes. (6/10)
Stelle: Wenn man denkt, nach „Host“ kann es eigentlich nicht schlimmer kommen, dann stolpert plötzlich „Believe in Nothing“ um die Ecke. Stilistisch hat sich nicht mal so viel verändert, nur wurden die Songs noch schwächer – und dazu dieses Cover mit dem Bienenschwarm, das für mich bis heute völliges Rätselraten bleibt. Statt Metal gab es Poprock ohne Biss, dazu eine Produktion direkt aus der unteren Schublade. Ich mag Depeche Mode, aber was Paradise Lost hier abgeliefert haben, war für mich eine Katastrophe. Es ist bis heute die einzige Platte der Band, die ich nicht im Original besitze – und wenn ich sie hätte, wäre sie vermutlich längst als Bierdeckel zweckentfremdet. Believe in Nothing markiert für mich den absoluten Tiefpunkt der Bandgeschichte. (2/10)
Tobi: keine Wertung, da ich es schlichtweg noch nie gehört habe… vermutlich belass ich es auch lieber dabei.
„Symbol of Life“ (2002)
Angeheizt von Produzent Rhys Fulber ist „Symbol of Life“ wieder ein großer Schritt in Richtung Metal, wobei sogar gelegentlich, wie im Opener „Isolate“, Erinnerungen an die Neue Deutsche Härte wach werden. Kein „Icon“ also, aber wieder ein willkommener Schwenk in härtere Gefilde. Mit „Erased“ ist ein großer Hit auf dem Album zu finden, ebenso wie der meistgestreamte Song der Band: Das Cover des Bronski Beat-Klassikers „Small Town Boy“, der ein Bonustrack auf der Digipak-Version des Albums war.
Heiko: Genau wie „Believe in Nothing“ ein nicht ganz konsistentes Album, dafür aber mit noch mehr und noch größeren Highlights. „Isolate“, „Erased“ und besonders „Pray Nightfall“ sind starke Songs, mein persönlicher Riesenhit ist aber das super schwermütige „No Celebration“, das sogar Erinnerungen an die große Phase Mitte der 90er weckt. Ein wahnsinnig toller Song, der dann noch besser wird, wenn man im Anschluss schnell genug auf die Skip-Taste haut, denn das folgende „Self Obsessed“ könnte die Stimmung kaum unpassender einreißen. Der zweite Ausfall ist „Channel for the Pain“, ein höchst untypischer Song mit fast schon punkigen Anleihen, was jedoch überhaupt nicht zusammenpassen will und geradezu anstrengend wird. Das abschließende „Small Town Boy“-Cover stimmt da wieder weitaus versöhnlicher und die Goth-Rock/-Metal-Adaption des Klassikers funktioniert extrem gut. (7/10)
Stelle: Mit „Symbol of Life“ ging es für mich endlich wieder ein Stück bergauf. Der Stil hatte sich im Vergleich zu den Vorgängern zwar nicht radikal verändert, aber es waren wieder mehr Gitarren am Start und auch die Songs wirkten deutlich stärker. Produzent Rhys Fulber sorgte für einen fetteren Sound, und mit „Erased“ gab es sogar einen richtig großen Hit, den ich bis heute großartig finde. Insgesamt ist es kein überragendes Album, aber man spürt deutlich, dass wieder Leben in der Band steckt und sie sich scheinbar auch intern gefangen haben. Symbol of Life macht auch heute noch stellenweise Spaß – reicht für mich aber unterm Strich nur für 6,5 von 10 Punkten.
Tobi: Steht zwar Paradise Lost drauf, ist es aber irgendwie nicht. Dünn und nervig tönen die meisten Songs aus der Box. „Isolate“ als Opener ist ’ne Frechheit, „Erased“ geht so, dann folgt viel Grütze. Wenn der Bonustrack (eine Coverversion des Bronski Beat-Klassikers „Small Town Boy“) der beste Song des Albums ist, ist alles gesagt. (3/10)
„Paradise Lost“ (2005)
15 Jahre nach „Lost Paradise“ nun also „Paradise Lost“. Das selbstbetitelte Album setzt den Weg von „Symbol of Life“ fort. Noch nicht übermäßig heavy, aber wieder ganz klar Metal, mit viel Melodie und präsenter Synth-Begleitung. Nach dem Ausstieg von Lee Morris ist es das erste Album mit dem in diesem Jahr frisch wieder eingestiegenen Drummer Jeff Singer. Im Liveset findet das Album schon lange keinerlei Beachtung mehr, für viele aber eine versöhnliche Rückkehr zu (zumindest fast) alter Stärke.
Heiko: Die Briten scheinen sich mit ihrer Rolle als einstige Gothic-Metal-Größen wieder arrangiert zu haben und liefern ein grundsolides Album mit großer Catchiness und einigen starken Refrains ab. Sehr gute erste Hälfte, nach dem düsteren „Sun Fading“ wird es aber erstmal etwas belangloser, ehe es mit den letzten drei Songs wieder bergauf geht. „Spirit“ hat einen der coolsten Refrains des Albums und wie auf „Believe in Nothing“ hebt man sich mit „Over Madness“ einen der besten und gefühlvollsten Songs für das Ende auf, mit einem fantastischen Gitarrensolo. (7/10)
Stelle: Mit dem selbstbetitelten Paradise Lost-Album hatte mich die Band dann so langsam wieder zurück. Der Sound ging für meine Ohren ein Stück weit in die Richtung von „One Second“, mit ähnlich eingängigen Songs – allerdings ohne die poppigen und elektronischen Spielereien, die auf „Host“, „Believe in Nothing“ und „Symbol of Life“ für mich oft im Weg standen. Ein Song wie „Forever After“ ist einfach ein Kracher und zeigt, dass die Band ihre Catchiness noch immer abrufen konnte. Für mich war das Album damals ein richtiges Versöhnungsangebot – nicht perfekt, aber klar erkennbar härter, rockiger und metallischer als die direkten Vorgänger. Auch wenn es kein Meilenstein ist, bleibt es ein gutes, solides Album, das ich heute mit 7,5 von 10 Punkten einordnen würde.
Tobi: Das erste Mal nach 10 Jahren keimte für mich ein bisschen sowas wie Hoffnung auf. Als ich den Opener „Don’t Belong“ das erste Mal hörte war mein Interesse nach langer Zeit mal wieder da, ein Paradise Lost Album zu erkunden. Und ich wurde nicht enttäuscht. Zwar ist das Ganze mit der ersten Hochphase der Band nicht zu vergleichen und meilenweit von der Stärke alter Tage entfernt, doch handelt es sich bei der Musik um guten Synth – Gothic Rock. Allen voran „Forever After“ kann überzeugen. (5/10)
„In Requiem“ (2007)
Die Rückkehr zur Heaviness geht weiter. Die Stimmung kippt noch viel weiter (sollte aber noch lange nicht ihren Tiefpunkt erreichen), die Gitarren haben noch mehr Punch und langsam aber sicher freunden sich mehr und mehr alte Fans wieder mit ihren einstigen Helden an. Die von hartem Chugging getragene Single „The Enemy“ ist bis heute fester Bestandteil des Liveprogramms und auch „Requiem“ wird immer noch oft zum Besten gegeben.
Heiko: Und noch eine Steigerung. „In Requiem“ hält viele sehr starke Songs bereit, besonders die erste Hälfte ist wieder große Klasse, bis auf den etwas schwächelnden letzten Song wird die Qualität aber durchweg gut gehalten. Die wiedergefundene Härte wird mehr und mehr zelebriert und es finden sogar wieder doomige Anleihen Einzug. „The Enemy“ und „Praise Lamented Shade“ sind als große Highlights zu nennen. (8/10)
Stelle: Mit „In Requiem“ hatten mich Paradise Lost dann endgültig wieder. Alte Elemente fanden ihren Weg zurück in die Songs, die Gitarren waren wieder härter, und auch Nick Holmes sang deutlich rockiger und bissiger. Stücke wie „The Enemy“ zeigen eindrucksvoll, dass die Band ihre dunkle, heavy Seite wiedergefunden hatte, teilweise sogar mit kleinen Doom-Schattierungen. Insgesamt ist das ein starkes, rundes Album, das auch heute noch bestens funktioniert. Für mich war „In Requiem“ der erste richtige Schritt in Richtung Rehabilitation – und das meine ich mit einem Augenzwinkern – und verdient solide 8 von 10 Punkten.
Tobi: Überraschung pur! Ein richtig starkes Album! Verstärkt wird der Eindruck dadurch, dass die Werke davor bestensfalls so lala aus den Boxen dröhnten… erstmals seit Langem macht ein Paradise Lost Album am Stück wieder Spaß! Auch wenn die Songs nach „The Enemy“ im zweiten Teil des Albums etwas abbauen, ist es insgesamt ein sehr gelungener Output. (7/10)
Stephan: Das Album steht in meinem Schrank. Ich weiß nicht mehr ob ich es direkt 2007 gekauft habe, aber es gefiel mir wieder sehr gut. Schon der Opener „Never for the Damned“ macht direkt Spaß und erinnert mich an die 90er. „Prelude to Descent“ hat hymnischen Charakter, gemischt mit ordentlich Härte, das packt mich wieder. (8/10)
„Faith Divides Us – Death Unites Us“ (2009)
Und es wird noch viel, viel finsterer. „Faith Divides Us – Death Unites Us“ suhlt sich geradezu in Dunkelheit und rückblickend war es nur logisch, dass man früher oder später auch wieder zum Death-Doom zurückkehren würde, auch wenn man damit noch sechs Jahre warten sollte. So tonnenschwer und doomig wie hier waren Paradise Lost jedenfalls nicht mehr seit Anfang der 90er. Da man (wieder) ohne festen Schlagzeuger dastand, wurden die Drums vom Schweden Peter Damin als Sessionmusiker aufgenommen.
Heiko: Bockstark! Gerade aufgrund der fetten Jens Bogren-Produktion und tiefgestimmten Gitarren das bis dato härteste Paradise Lost-Album (allzu lange sollte es diesen Status aber nicht behalten). So viel Melancholie, Schwermut, Doom-Heaviness und so viele packende Melodien, dass einem nur das Herz aufgehen kann. Lediglich das von Death-Metal-Anleihen durchzogene „Living with Scars“ überzeugt mich nicht komplett, da Nicks stellenweise sehr tiefen Vocals etwas gezwungen wirken. Vielleicht hätte man hier schon die alten Growls wieder auspacken sollen. (9/10)
Stelle: Als „Faith Divides Us – Death Unites Us“ erschien, hat mich das Album komplett umgehauen. Ultra-heavy, finster und stellenweise so roh, dass es mich direkt an „Shades of God“ erinnerte – vor allem durch den Gesangsstil von Nick Holmes. Songs wie „First Light“, „As Horizons End“ oder der mächtige Titeltrack „Faith Divides Us – Death Unites Us“ gehören für mich zu den Highlights der späteren Bandgeschichte. Gerade der Titeltrack hat mit seinem ultrageilen Chorus absolutes Gänsehaut-Potenzial und erinnert mich direkt an die Klasse von „Draconian Times“. Die Produktion ist druckvoll, sauber und fett, ohne die düstere Atmosphäre zu verwässern. Für mich war dieses Album ein starkes Lebenszeichen, voller Rückbezüge an die frühen Neunziger – nur eben mit dem Soundgewand von 2009. Klare 9 von 10 Punkte.
Tobi: Die logische Weiterentwicklung von „In Requiem“, back to the roots: ein bockstarkes Album mit nur ganz wenigen Schwächen. Es hat mich auch beim aktuellen Wiederentdecken vollständig überzeugt und stellt den mit Abstand stärksten Output seit „Draconian Times“ dar. (8/10)
„Tragic Idol“ (2012)
Das zweite Album mit Star-Produzent Jens Bogren hinter den Reglern, aber damit nicht genug Schwedenpower: Als neuen festen Schlagzeuger hat man sich At the Gates-Knüppler Adrian Erlandsson ins Boot geholt, der „Tragic Idol“ mit erwartbarer Power versorgt. Ein rifflastiges, hartes Album mit großer Energie und gewissermaßen das Ende dieser modernen Gothic-Metal-Ära für die Band, ehe man wieder das finstere Death-Doom-Elend zurückbringen sollte.
Heiko: Riffs, Riffs, Riffs! Ich sag’s wie’s ist: „Tragic Idol“ ist mein zweitliebstes Paradise Lost-Album! Der legitime, modernisierte Nachfolger von „Draconian Times“ mit dreifacher Heaviness. Jedes Riff und jede Melodie trifft für mich genau ins Schwarze und Nick gibt eine super kraftvolle Performance, die alle Schwächen, die er in vereinzelten Momenten auf den Vorgängern zeigte, ausradiert. Ich könnte jetzt anfangen meine Lieblingssongs aufzuzählen, würde dabei aber einfach nur die Tracklist runterrattern. Die alles zermalmende Härte von „Honesty in Death“ und „Crucify“, die treibenden Rhythmen und knallharten Riffs von „In This We Dwell“, die packenden Gesangsmelodien des Titeltracks, die erdrückende Schwermut von „The Glorious End“,… Für mich stimmt hier schlicht und einfach alles. (10/10)
Stelle: Wenn „Faith Divides Us – Death Unites Us“ schon ein gewaltiges Comeback war, dann hat „Tragic Idol“ noch mal eine Schippe draufgelegt. Der Sound ist ähnlich fett produziert, aber die Songs sind noch griffiger und stärker, was sicher auch am neuen Drummer Adrian Erlandsson (At The Gates) liegt, der den Stücken spürbar mehr Punch verlieh. Kracher wie „Fear of Impending Hell“ oder die Abrissbirne „Theories from Another World“ (endlich wieder Double-Bass-Geballer!) zeigen eindrucksvoll, wie viel Energie Paradise Lost 2012 noch immer freisetzen konnten. Vom Gesang her dominieren die rockigeren Facetten von Nick Holmes, doch überall blitzen Reminiszenzen an das Frühwerk durch, die klar machen: Das ist und bleibt Paradise Lost. Für mich reiht sich „Tragic Idol“ nahtlos neben Meilensteine wie „Icon“ oder „Draconian Times“ ein – klingt zwar moderner, aber mit derselben Magie. Ganz klar 9,5 von 10 Punkten.
Tobi: Dieses Album übertrumpft den Vorgänger nochmal um ein bisschen! Man könnte es als „Draconian Times 2.0″ beschreiben, jeder Song sitzt und macht Spaß! Die gleiche Punktzahl kann es jedoch nicht geben, die ist fürs Original reserviert! Für mich symbolisiert dieses Album den Höhepunkt der 2. Hochphase der Band und war im Jahr des Erscheinens mit Abstand persönliches Album des Jahres! (9/10)
„The Plague Within“ (2015)
Greg Mackintoshs Nebenprojekt Vallenfyre und Nick Holmes Einstieg bei der schwedischen Death-Supergroup Bloodbath dürften ihren wesentlichen Teil dazu beigetragen haben, dass Paradise Lost auf ihrem nächsten Album alle Register ziehen und zu ihren Wurzeln zurückkehren sollten. Zum ersten Mal seit den frühen 90ern ist Nick auf einem Paradise Lost-Album wieder mit fiesesten Death-Growls zu hören. „The Plague Within“ strahlt pure Finsternis und Hoffnungslosigkeit aus und ließ selbst diejenigen aufhorchen, denen bereits „Icon“ zu massentauglich war.
Heiko: „No Hope in Sight“: Das ist nicht nur der Titel des großartigen ersten Songs, sondern auch genau die Stimmung die dieses Album vermittelt. Es ist doomig, finster, tonnenschwer und schafft es dabei trotzdem eine gute Vielfalt aufzufahren. Nick Holmes brilliert besonders und findet eine gute Balance aus Klargesang und seinem frisch wiederentdeckten Growling. Wenige Bands schaffen diesen Spagat für meine Ohren so stilsicher wie Paradise Lost. Der Opener leitet die trübselige Stimmung perfekt ein und gehört zu meinen liebsten Paradise Lost-Songs überhaupt. „Beneath Broken Earth“ ist ein monströses, sich elendig dahinschleppendes Death-Doom-Meisterwerk und Songs wie „An Eternity of Lies“, „Sacrifice the Flame“ oder der Death-Doom-meets-Stoner-Sound von „Cry Out“ überzeugen ebenso. (8/10)
Stelle: Mit „The Plague Within“ legten Paradise Lost nochmal ordentlich an Härte zu und kehrten mutig zu ihren Death-Metal-Wurzeln zurück. Songs wie „Beneath Broken Earth“ sind pure Lava – zähfließend, doomig und unglaublich düster, fast schon auf einer Linie mit den ganz frühen Alben wie dem Debüt oder „Gothic“. Gleichzeitig ist die Platte modern umgesetzt und zieht ihre Inspiration aus der eigenen Vergangenheit, ohne wie ein bloßer Rückschritt zu wirken. Für mich ist das ein richtig starkes, finsteres Album mit einer fast schon My Dying Bride-artigen Schwere, das zwar nicht die Klasse des Vorgängers erreicht, aber dafür ein eigenes, bedrohliches Monument geworden ist. Dazu passt das düstere Artwork perfekt. „The Plague Within“ ist sicher nichts Radiotaugliches – aber genau das macht es so gut. 7,5 von 10 Punkten.
Tobi: Gutes Album, im Vergleich zum Vorgänger jedoch ein wenig enttäuschend. „Beneath Broken Earth“ ist natürlich ein Überhit, der Rest fällt jedoch deutlich ab. (7/10)
Stephan: Paradise Lost kehren nach weiteren 8 Jahren erneut zurück in meinen Plattenschrank. Großartig verbundenes Zusammenspiel von Melodie, Doom-Sounds, Klar-/und Growlgesang – fantastisch. Heraus sticht „Beneath Broken Earth“, auch weil er für mich eine persönliche Geschichte mitträgt, die ihn besonders speziell macht. You Wish to dieee… „Beneath Broken Earth“ ist für mich neben „Solitude“ von Candlemass einer der besten Doom-Metal Songs aller Zeiten. (9/10)
„Medusa“ (2017)
Warum nicht einfach noch eins draufsetzen? Mackintosh bezeichnet „Medusa“ als das Sludge-Album von Paradise Lost. Noch schleppender, noch düsterer, noch mehr Growling. Inspiriert von „Beneath Broken Earth“ vom Vorgängeralbum, geht man den Death-Doom-Pfad konsequent weiter und präsentiert ein Album, getragen von purer Trostlosigkeit. Nachdem Adrian Erlandsson sich wieder seiner aktiver gewordenen Hauptband zuwandte, nahm der finnische Jungspund Waltteri Väyrynen dessen Platz ein.
Heiko: Was ein düsterer, schwer verdaulicher Brocken. Für mich noch mehr als „The Plague Within“ ein höchst stimmungsabhängiges Album und daher weitaus seltener im Gehörgang als viele andere. In der richtigen Stimmung aber ein mitreißendes Album mit (die Bonustrack mal außenvorgenommen) durchgehend sehr hohem Niveau. Die schleppendste und atmosphärischste Platte der Band, mit dem längsten Song der Bandgeschichte direkt zu Beginn. „Medusa“ mag die Vielfalt anderer Alben abhanden kommen, ist aber ein grandioses, stimmungsvolles Death-Doom-Album und in dieser Hinsicht in meinen Augen noch stärker und konsequenter als sein Vorgänger. (9/10)
Stelle: Als „Medusa“ erschien, habe ich das Album regelrecht abgefeiert – Death-Doom pur, mit vielen Growls und weniger Clean-Gesang als zuvor. Songs wie „Fearless Sky“, „The Longest Winter“ oder „Blood and Chaos“ liefen bei mir damals in Dauerschleife und haben gezeigt, wie düster und schwermütig Paradise Lost klingen können. Überraschenderweise habe ich die Platte in den letzten Jahren kaum mehr gehört, aber beim Drüberfliegen ist mir sofort wieder klar geworden, was für ein starkes Album das eigentlich ist – und dass ich es künftig wieder häufiger auflegen werde. Das Album ist finster, schwer und trägt diesen unterschwelligen My Dying Bride-Vibe in sich, ohne je wie eine Kopie zu wirken. „Medusa“ bleibt für mich ein starkes Death-Doom-Werk, das immer noch Bock macht – 8,5 von 10 Punkten.
Tobi: Die Grundstimmung des Albums gefällt, leider bleibt bis auf „Fearless Sky“ kein Song hängen! Ich kann gar nicht genau benennen, was für mich bei dem Album das Problem ist, aber es catcht mich einfach nicht. Handwerklich alles top, wie immer. Habe aktuell noch einmal versucht einen Zugang zu finden, leider vergebens! (6/10)
„Obsidian“ (2020)
Waltteris Zeit mit der Band sollte nach „Obsidian“ auch bereits wieder ihr Ende finden, ergab sich für ihn schließlich die Gelegenheit bei Opeth die Nachfolge von Martin Axenrot anzutreten (wer kann es ihm verübeln?). Es wäre ja auch schließlich völlig absurd für einen Paradise Lost-Schlagzeuger mehr als zwei Alben am Stück einzuspielen… „Obsidian“ setzt den Death-Doom-Sound der beiden Vorgänger fort, bringt aber auch wieder merkbar größere Gothic-Anteile zurück und deckt weite Teile des Schaffens der Band ab.
Heiko: Für mich nochmal stärker als die beiden Vorgänger und in meiner Gesamtrangliste wohlmöglich auf dem dritten Platz. „Darker Thoughts“ ist der Wahnsinn und nicht weniger als ein perfekter Paradise Lost-Song. Hochemotional, packend, die perfekte Mischung aus leisen und lauten Tönen und ein Garant für Gänsehaut. „Ghosts“ lässt die Growls beiseite und ist eine fantastische, eingängige Gothic-Nummer. Komischerweise hab ich’s bisher noch gar nicht erwähnt, aber Greg Mackintosh ist einer meiner allerliebsten Lead-Gitarristen und Songwriter überhaupt. Songs wie dieser sind der Grund dafür. „Obsidian“ hat keine schwache Sekunde und jeder Song hat etwas besonderes an sich. In einem so fantastischen Metal(!!!)-Jahr wie 2020 ein großes Jahreshighlight und auch in der gesamten Diskographie von Paradise Lost ein großes Ausrufezeichen. Für Album Nr. 16 wirklich beeindruckend. (10/10)
Stelle: „Obsidian“ war 2020 ohne jede Frage mein Album des Jahres – und das mit großem Abstand, obwohl die Konkurrenz stark war. Schon der Opener „Darker Thoughts“ baut sich langsam auf, nur um dann zu einem wahren Gothic-Metal-Monument zu explodieren. Mit „Fall from Grace“ folgte direkt der nächste Kracher, während „Ghosts“ mit seiner Sisters of Mercy-Schlagseite zeigt, wie perfekt Paradise Lost ihre Einflüsse umsetzen können: simpel, aber effektiv, catchy und mit geiler Bassarbeit. Das gesamte Album ist voller Highlights, kein einziger Filler, alles wirkt bis ins Detail stimmig. Auch fünf Jahre später hat „Obsidian“ nichts an Wirkung verloren – ich höre es immer noch regelmäßig und es macht nach wie vor riesigen Spaß. Für mich eine nahezu unverschämt perfekte Scheibe – und deshalb gibt’s die volle Punktzahl: 10 von 10 Punkten.
Tobi: Deutlich stärker, als die beiden vorherigen Alben tönt Obsidian aus der Box. Keine Champions League, wohl aber gehobenes Mittefeld! „Darker Thoughts“ und „Ghosts“ sind meine persönlichen Highlights! (7,5/10)
„Ascension“ (2025)
Nach fünf langen Jahren ist es am 19. September also soweit und die längste Wartezeit zwischen zwei Paradise Lost-Alben findet ihr Ende. Immerhin gab es im Jahre 2023 mit dem Host-Album „IX“ und der Neueinspielung von „Icon“ unter dem Titel „Icon 30″ zwei Trostpflaster. Letzteres markierte auch die erste Aufnahme mit Drummer Guido Zuma. „Ascension“ ist allerdings auch schon wieder die letzte, da er im Anschluss an seinen etwas zu lahmarschigen Aufnahmeprozess gefeuert wurde. Fortan sitzt mit Jeff Singer wieder ein Altbekannter hinter der Schießbude.
Die ausführliche Review von Redakteur Tobi folgt sehr bald hier bei Moshpit Passion. An dieser Stelle aber schon mal ein kleiner Ersteindruck von Kollege Stelle:
Stelle: Mit „Ascension“ eröffnen Paradise Lost Ende September das nächste Kapitel ihrer Karriere – und schon nach den ersten Durchläufen bahnt sich an: Das Album atmet den Geist der Jahre 1992/93. Überall finden sich Anspielungen an „Icon“ und „Shades of God“, nur in einem zeitgemäßeren Gewand. Gitarrist Greg Mackintosh hat selbst betont, dass ihn die Neuaufnahmen zu „Icon 30″ stark inspiriert haben – und genau das hört man in jeder Note. Die bisher veröffentlichten Singles waren schon stark, und auch das Gesamtwerk macht jetzt schon richtig Spaß. Für eine endgültige Bewertung ist es noch zu früh, aber der Eindruck ist mehr als vielversprechend. Alles deutet aber darauf hin, dass „Ascension“ auf lange Sicht als weiteres großes Highlight in der Diskographie von Paradise Lost bestehen wird. Zusammenfassend: Wenn ich all diese Alben betrachte, sehe ich keine simple Diskografie, sondern die Chronik meines Lebens. Paradise Lost haben mich begleitet – auf dem Fahrrad zur Schule, im Kinderzimmer, auf Festivals, in guten wie in schlechten Zeiten. Manche Platten liefen in Dauerschleife, andere verstauben lieber im Regal. Aber sie waren immer da, ein dunkler, roter Faden durch all die Jahre. Und vielleicht ist genau das die größte Leistung dieser Band: dass sie nie belanglos wurde, dass sie mich geprägt, geärgert, begeistert und immer wieder überrascht hat. Paradise Lost sind für mich mehr als nur eine Band – sie sind ein Stück meines Lebens.
Die Alben im Redaktions-Ranking
Platz 1: „Draconian Times“ (10.0)
Platz 2: „Tragic Idol“ (9.5)
Platz 3: „Obsidian“ (9.1)
Platz 4: „Icon“ (9.0)
Platz 5: „Faith Divides Us – Death Unites Us“ (8.6)
Platz 6: „Shades of God“ (8.2)
Platz 7: „Gothic“ (8.0)
Platz 8: „The Plague Within“ (7.8)
Platz 9: „Medusa“ (7.8)
Platz 10: „In Requiem“ (7.7)
Platz 11: „One Second“ (6.8)
Platz 12: „Lost Paradise“ (6.7)
Platz 13: „Paradise Lost“ (6.5)
Platz 14: „Symbol of Life“ (5.5)
Platz 15: „Host“ (5.0)
Platz 16: „Believe in Nothing“ (4.0)
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Bildnachweis: Peaceville Records, Music for Nations, EMI, GUN Records, Century Media Records, Nuclear Blast Records.