CAIN: GEWINNEN, VERLIEREN UND NICHTS DAZWISCHEN?
Es gibt Bands, die es schaffen. Alle fangen sie klein an, seit jeher. Anfang der Neunziger sah es zum Großteil so aus, dass man seine ersten Songs überwiegend mit einer Klangqualität aufnahm, die sich mit viel gutem Willen nach einer Mischung aus Keller und an die Wand gepfefferten Küchenutensilien anhörte. Man spielte seine ersten (nicht selten unentgeltlichen) Auftritte in charmanten Kaschemmen und im Bestfall konnte man bereits ein Demo-Tape mit besagter Soundqualität vorweisen. Und da das kommerzielle Internet noch etwas auf sich warten ließ, war Mundpropaganda das Gebot der Stunde.
Das Bandprojekt nimmt also ordentlich Fahrt auf, man veröffentlicht das erste Album, spielt mit immer größeren Nummern in immer bekannteren Locations und mehrere Dekaden später zählt man allgemeinhin zum Urgestein. Naja. Im Bestfall.
Dann wiederum gibt es Bands, die es leider nicht schaffen. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig, doch letzten Endes verschwinden sie und ihre auf Tonträger gebannten Hinterlassenschaften an die Musikwelt meistens in der Versenkung. Bis sich ein Label der Bergung und Entstaubung annimmt. Wie mit dem selbstbetitelten Album von Cain.
DER MENSCHHEIT ERSTER MÖRDER
John Pickering und Pete Nash, beide damals in der Crustpunk-Band Doom, gründeten 1990 ihr neues Projekt namens Born Loser, aus dem später Cain werden sollte. Sie holten ihre Freunde Clive Meldrum (Schlagzeug) und Stephen O’Connor (Gitarre) an Bord. Nach ersten Auftritten wurde Neil McLaren, zu jener Zeit Soundtechniker für Godflesh, auf die Band aufmerksam und bot ein Release auf seinem neuen Label, Take The Pain Records, an. Im Februar ’92 ging es in die Icehouse Studios in Stourbridge und es wurde das aufgenommen, was einmal ihr erstes – und einziges Werk – werden sollte.
Dem Geist der damaligen Zeit entsprechend ließen sich Cain bereits vor der Aufnahme ihres ersten Studioalbums von den Größen des Doom-Sektors inspirieren; von Candlemass über St. Vitus bis hin zu Black Sabbath sollten sich viele ihrer ersten geschriebenen Stücke dem dreckigen, langsamen und schleppenden Klängen der Vorbilder annähern. Mit jedem weiteren Song flossen jedoch auch experimentelle Sounds hinein – unter Anwendung technischer Spielereien, Delay und Reverb fanden psychedelische Elemente, Noise sowie Industrial-Einschläge ihren Weg in das Repertoire.
Das aufgenommene Material fand seinen Weg auf die CD, deren Begrenzung an Daten und Laufzeit damals erweitert wurden. Aus diesem technologischen Fortschritt zogen John und sein Ensemble ihren Nutzen und bannten insgesamt 72 Minuten auf den Datenträger. 1993 wurde die Scheibe in limitierter Auflage veröffentlicht, erhielt ordentliche Reviews und verkaufte sich gut.
Dennoch erwies sich die Promotion der Scheibe nicht als das Gelbe vom Ei, zudem war die Band bereits im Begriff, sich aufzulösen. Anders als im Beispiel zu Beginn dieser Review nahm das Schiff mit dem Namen Cain leider keine Fahrt mehr auf und die Jungfernfahrt endete noch im selben Jahr. Alle Mitglieder widmeten sich von da an anderen Projekten.
Nun sind fast drei Jahrzehnte ins Land gezogen und das einzige Machwerk des Trupps wurde kürzlich wiederveröffentlicht – auf CD sowie erstmals auf Vinyl, komplett remastered und mit der vorgesehenen Reihenfolge der Tracks. Nun stellt sich die Frage: Taugt der Einstand der Düstermänner aus Birmingham heute noch etwas?
SCHLEUDERGANG, 72 MINUTEN
Stellt euch beim Opener mit dem schicken Namen „Oberon:Desolate One“ nichts anderes vor als ein gigantisches schwarzes Loch, mit dessen Singularität ihr auf direktem Kollisionskurs seid. Es gibt kein Entkommen und ihr werdet unaufhaltsam hineingezogen. Diese mehr als vierzehnminütige Vorspeise glänzt mit beinahe nebulös-spektralem Chorgesang, während der mal kriechende, mal stampfende Rhythmus einem fast die Beine wegzieht.
Mit schleppenden Riffs bricht „Screams Of The Reaper“ los und wird durch höllische Drums und fast schon gebellte Growls komplettiert. Spätestens jetzt wird klar: Man befindet sich nicht mehr im Jahre 2019, nein. Wir haben 1993. Handgemachte Musik klingt nach handgemachter Musik, grob und ungebändigt. Der leidvolle Sound der Instrumente – ein One Way Ticket zur absoluten Trostlosigkeit.
„Crucify“ löst seinen Vorgänger mit etwas mehr Speed und einem unnachahmlichen Groove ab. Trotz höherem Gang geht allerdings nichts von der niederschmetternden Atmosphäre verloren; ganz im Gegenteil geben sich nach fünf Minuten unheilverkündende Rhythm- und nagende Lead-Gitarre die Ehre, während Pickerings Klagelaute aus den Boxen dröhnen.
„Into The Skull“ erinnert an einen Thriller, zeichnet sich doch im musikalischen Aufbau eine Art Spannungsbogen ab. Eine düstere und voyeuristische Einleitung, bevor man sich in Wellen und Wellen von teuflisch guten Riffs erbricht; die lakonisch vorgetragenen Zeilen ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Die Instrumente der Jungs mutieren zu schneidenden Klingen, stechenden Nadeln und ohrenbetäubende Walzen.
„I’ll show you… Masters of Death”. Diese Worte läuten nicht nur Track numero quattro ein, sie ziehen sich wie ein roter Faden durch das experimentellste Stück, welches mit Samples aus dem Film „Shogun Assassin“ von 1980 unterlegt ist. Zu diesem Mantra gesellen sich außerweltliche, bedrohliche Töne, sich immer windender und verwirrender. „Your technique is magnificent“, heißt es nach viereinhalb Minuten von der schlangenhaften Stimme des namensgebenden Master of Death, fragil und kraftvoll zugleich, der bis zum Ende hin in stiller Agonie über die Kunst des Tötens sinniert.
„Bleeding“ startet mit einem fast schon beruhigenden Bassspiel. Generell kann man diesen Track zu nur als mesmerisierend bezeichnen; seien es die schwindelerregenden Klänge der Gitarren, der Sprechgesang oder der stete Herzschlag der Drums, allumfassend und immer da. Aus dem Zusammenspiel wird ein fesselnder Blick in den Abgrund.
Bestimmt werden rund vier der knapp acht Minuten Spielzeit des vorletzten Songs „Ultimate Elevation“ durch ein- und denselben Rhythmus. Dessen felsenfestes Fundament bröckelt zu keiner Zeit, bietet aber einen Brutplatz für eine horrorhafte Verflechtung feinster Doom-Klänge, die mit jeder verstreichenden Minute weiter emporwuchern.
„Lone Wolf“ ist das zweite Ambient-Stück und Schlusswort des Albums, welches seinem Namen mit Wolfsgeheul und atmosphärische Noise-Sounds alle Ehre macht – zunächst im verspielten Wechsel, dann ineinander verschmelzend. Anders als „Masters Of Death“ ist dieser Track zwar nicht ganz so experimentell, steht seinem wunderbar geisteskranken Bruder hinsichtlich Trance induzierender Klänge jedoch in Nichts nach und bildet ein äußerst rundes Ende.
WIE EIN GUTER WEIN
Am Ende des Hördurchgangs hält für so manchen Hörer – mich eingeschlossen – leichte Nostalgie Einzug. Als Kind der Achtziger und Neunziger hat mich der rabiate, düstere Sound mit dem Extrasahnehäubchen an Groove keinesfalls auf dem falschen Fuß erwischt. Er erinnert mich an frühe Werke heute bekannter Größen des gesamten Doom- und Gothic-Sektors, wie etwa St. Vitus, Tiamat, My Dying Bride und die höchst wandlungsfähigen Paradise Lost. Hört man sich zum Beispiel die erste Demo oder das erste Album letztgenannter Band an, könnte man meinen, dass mehr Death Metal als alles andere aus den Boxen dröhnt, denn genau dieser Hybrid aus Todesblei und Gothic / Doom-Themen feierte damals Hochkonjunktur (meine ewige Liebe an dieser Stelle für die „Lost Paradise“ und „Gothic“).
Cain arbeiten jedenfalls wie ein verdammtes Uhrwerk. Jeder Riff, jeder Schlag, jede Zeile sitzt und komplementiert alle anderen Elemente. 27 Jahre später ist das gleichnamige Machwerk alles andere als aus der Mode gekommen. Es hämmert, es scheppert, es zieht durch den Gehörgang wie eine Begräbnis-Prozession. Schlussendlich kann man sagen, dass die Platte gereift ist, wie ein guter Wein. Und was macht man mit gutem Wein? Entkorken, einschenken, ab in den Rachen und genießen.
Note: 2
COVER-ARTWORK & TRACKLIST
01 – Oberon:Desolate One | 13:53
02 – Screams Of The Reaper | 07:11
03 – Crucify | 08:06
04 – Into This Skull | 10:30
05 – Masters Of Death | 05:24
06 – Bleeding | 11:26
07 – Ultimate Elevation | 07:37
08 – Lone Wolf | 9:46
Total: 01:13:53
CAIN | CRUCIFY
Bildnachweis: Rise Above Records.