Decapitated – „Cancer Culture“ (VÖ: 27.05.2022)
Fünf Jahre nach ihrem letzten Output „Anticult“ legen die polnischen Death-Metaller von Decapitated mit „Cancer Culture“ ein brutales neues Album vor. Die US-Tour zu ihrem letzten Album haben sich die Polen aber sicher anders vorgestellt, denn diese endete in einer dreimonatigen Untersuchungshaft wegen des Verdachts auf Entführung und Vergewaltigung. Beschuldigungen, die letztendlich zwar fallengelassen wurden, dem Ruf der Band aber sicherlich tiefe Risse hinterlassen haben dürften.
Angepisst wie eh und je
Diese Ereignisse, genauer gesagt, die Reaktionen auf diese spielen auch direkt in den eröffnenden Titeltrack rein, der mit spürbarer Aggression daherkommt, textlich jedoch in etwa so platt gerät, wie es der Titel befürchten lässt. Musikalisch ist die Nummer jedoch über jeden Zweifel erhaben und reißt mit knallhartem High-Speed-Drumming und messerscharfen Krawallriffs alles ein.
Zwar führt der Song den Weg des sehr groove-orientierten Vorgängeralbums fort, dass der Name Decapitated einst für brutalsten, technischen Death Metal stand und Mastermind und Saitenhexer Wacław „Vogg“ Kiełtykain in der Hinsicht nichts verlernt hat, lässt die Nummer aber ebenso durchscheinen. Zuweilen klingt das Album wie eine brachialere Death-Metal-Version von Lamb Of God oder neueren Machine Head. Dieses Modern-Metal-Gewand steht der Band außerordentlich gut, obgleich viele Fans der frühen Tage damit (nach wie vor) ihre Probleme haben werden.
Textliche Tiefflieger, musikalische Volltreffer
Noch mehr als der Titeltrack spielt „Just A Cigarette“ mit einer Laut-Leise-Dynamik, zunächst im Wechsel zwischen der zurückgenommenen, bedrückenden Strophe mit leisen, verzerrten Vocals und klaren Gitarren und dem brachialen Chorus mit starkem, melodischen Tremolo-Riffing und den mächtigen, heiseren Shouts von Sänger Rafał „Rasta“ Piotrowski in all ihrer Aggressivität. Auch danach bleibt der Song nie auf der Stelle stehen und entpuppt sich als äußerst vielschichtig, ohne dabei an Härte einzubüßen.
Abgesehen von einem ruhigen Mittelteil, den man so eher von einer modernen Progressive-Metal-Band erwarten würde, geht „No Cure“ gnadenlos und mit voller Wucht nach vorne. Der Song rechnet auf platte, aber unterhaltsame Weise mit Verschwörungstheoretikern und Internet-Trollen ab.
4chan University graduates
Experts in funny pictures and cats
Grew small in shadows of chemtrails
In fear of syringes
In fear of
Syringes, reptiles and sense
Nun ja, die Texte aus der Feder von Jarek Szubrycht (Lux Occulta) sind vielleicht nicht unbedingt die große Stärke von „Cancer Culture“. Aber ohne sie nachzulesen, könnten sie wahrscheinlich sowieso nur die wenigsten verstehen, zumal Rasta sie mit einer solchen Power rüberbringt, dass es verschmerzbar ist.
Geballte Star-Power
Die wahren Qualitäten von Decapitated sind ohnehin eher musikalischer Natur. Das Drumming vom ehemaligen Vader-Trommler James Stewart ist beeindruckend und durchgehend hochenergetisch. Gitarrist und Songwriter Vogg erweist sich einmal mehr als einer der ganz Großen seines Fachs. Kein Wunder, dass Machine Head-Chef Robb Flynn ihn als Nachfolger von Phil Demmel ins Boot geholt hat. Da bietet es sich natürlich perfekt an, Flynn auch gleich für einen Song vors Mikrofon zu schleppen. Nicht nur das macht „Iconoclast“ zu einem Highlight auf dem Album. Robb Flynns Klargesang auf einem Decapitated-Song zu hören wäre zu Zeiten von „Nihility“ noch absolut undenkbar gewesen. Anno 2022 und nach der musikalischen Entwicklung, die die Band durchgemacht hat, wirkt es aber keineswegs fremdkörperartig und fügt sich perfekt ins Klangbild ein.
Wie ein gewaltiger Fremdkörper dagegen kommen zunächst die Vocals von Jinjer-Sängerin Tatiana Shmayluk in „Hello Death“ daher. Nach einer Minute purer Raserei mit High-Speed-Drumming und wilden Stakkato-Riffs macht die Nummer einen plötzlichen Break und Tatianas Gesang ertönt über vertrackten, progressiven Klängen, ehe es danach wieder zum Anfang zurückkehrt und sich der Song anschließend in melodische Gefilde aufmacht. Erst im folgenden Wechselgesang von Rasta und Tatiana geht die Kombination voll auf und das Lied erreicht seinen Höhepunkt.
Auch wenn das Album bis zum Ende stets auf hohem Niveau operiert, scheint die meiste kreative Energie nach „Iconoclast“ aufgebraucht und die letzten vier Songs bieten nicht mehr viel Neues. Besonders „Last Supper“ geht aber noch als knallhartes Brett durch. „Hours As Battlegrounds“ geht in eine atmosphärische, düstere Richtung, kann aber nicht wirklich mit Highlights glänzen.
Fazit
„Cancer Culture“ setzt die zuletzt eingeschlagenen Wege von Decapitated fort und bringt saubrutalen Death- und Groove Metal, der sich auch mal in melodische und progressive Richtungen traut, dabei aber allein schon durch das furiose Schlagzeugspiel keine Kompromisse eingeht. Der deutliche Modern-Metal-Einschlag dürfte einige Fans vor dem Kopf stoßen, nichtsdestotrotz macht das Album aber auch genügend Schwenker in Richtung alter Tage und erinnert nicht selten an ihr 2006er Werk „Organic Hallucinosis“. Das Album macht in der ersten Hälfte jede Menge Laune und sollte mehr als tauglich sein, ordentlich Dampf abzulassen. Gegen Ende gehen der Band allmählich die starken Ideen aus, wenn’s mächtig krachen soll, macht man mit dem Album aber wenig verkehrt.
Cover & Tracklist
01 From The Nothingness With Love
02 Cancer Culture
03 Just A Cigarette
04 No Cure
05 Hello Death
06 Iconoclast
07 Suicidal Space Programme
08 Locked
09 Hours As Battlegrounds
10 Last Supper
Mehr Infos
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Bildnachweis: Nuclear Blast.
+ Fantastisches Drumming
+ Riffs, Riffs, Riffs!
+ Überraschende Vielfalt
+ Verdammt nochmal heavy
- Dämliche Texte
- Gewöhnungsbedürftiges Jinjer-Feature
- Schwächelt gegen Ende